Thüringer Sagen und Legenden – Winter am Rennsteig

Thüringer Sagen und Legenden – Winter am Rennsteig

Thüringer Sagen und Legenden – Winter am Rennsteig

Verschneite Wälder und geisterhafte Nächte – Winterlegenden aus dem Thüringer Wald

Wenn im Thüringer Wald der erste Schnee fällt, verändert sich die Landschaft schlagartig: Die Fichten tragen weiße Mützen, die Wege werden leiser, und selbst bekannte Pfade wirken plötzlich geheimnisvoll. Genau in dieser Stimmung – irgendwo zwischen Winteridylle und Gänsehaut – sind viele der alten Sagen und Legenden entstanden, die sich rund um den Rennsteig ranken.

Der Thüringer Wald im Winter – Bühne für Geschichten

Der Thüringer Wald ist ein dicht bewaldetes Mittelgebirge, das sich wie ein grüner (im Winter weißer) Riegel durch den Süden Thüringens zieht. Berühmt ist vor allem der Rennsteig, ein historischer Kammweg, der heute als Fernwanderweg bekannt ist. Im Sommer pilgern Wanderer und Radfahrer hier entlang, im Winter sind es eher Skilangläufer, Winterwanderer und Ruhesuchende.

Die Dörfer schmiegen sich in die Täler, häufig mit Fachwerkhäusern und steilen Dächern, die den Schnee gut abgleiten lassen. Früher, als Straßen seltener geräumt wurden und Strom noch längst nicht überall selbstverständlich war, bedeutete der Winter hier: Abgeschiedenheit.

Lange Nächte, Kälte, die dicht an die Häuser heranrückte – und viel Zeit zum Erzählen. Kein Wunder, dass gerade im Thüringer Wald viele Geschichten von Geistern, Jägern, Berggeistern und unerklärlichen Erscheinungen überliefert sind.

Ein wichtiger Sammler dieser Sagen war unter anderem Ludwig Bechstein mit seinem „Thüringer Sagenbuch“.

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Die Wilde Jagd über den Thüringer Wald

Eine der bekanntesten Sagenmotive, die auch im Thüringer Raum vorkommt, ist die Wilde Jagd – ein gespenstischer Reiterzug, der in besonders stürmischen Nächten über die Berge fegt.

Kurzfassung der Sage

An einem Dezemberabend sitzt eine Familie in einem kleinen Forsthaus nahe des Rennsteigs. Draußen tobt ein Schneesturm, drinnen knistert das Feuer. Man hat die Fensterläden fest verriegelt, die Tiere sind im Stall, die Kinder sitzen dicht beieinander.

Plötzlich hören sie in der Ferne Hundegebell. Erst leise, dann immer lauter. Ein Jagdhorn schallt durch die Nacht, doch niemand könnte bei diesem Wetter im Wald unterwegs sein. Das Heulen der Hunde mischt sich mit Rufen und einem unheimlichen Dröhnen, als käme eine ganze Reiterschar durch den Sturm herangebraust.

Die Großmutter erhebt sich, löscht eine der Kerzen und flüstert:

„Keiner schaut zum Fenster hinaus! Das ist die Wilde Jagd. Wer sie sieht, dem bringt sie Unheil.“

Die Familie bleibt still. Nur die Jüngste wagt einen Blick durch einen Spalt im Fensterladen. Sie sieht schemenhaft dunkle Gestalten auf Pferden, begleitet von gespenstischen Hunden, die über die Baumkronen zu fliegen scheinen. Dann, so plötzlich wie der Lärm kam, ist er wieder verschwunden. Der Sturm tobt weiter, aber die Jagd ist vorbei.

Am nächsten Morgen findet man um das Haus herum keine einzige Spur im Schnee.

Deutung und Hintergrund

Die Wilde Jagd ist ein altes Motiv des mitteleuropäischen Volksglaubens. In Thüringen verbindet sie sich mit den dunklen Wäldern und den oft heftigen Winterstürmen im Gebirge.

Solche Geschichten erklärten Naturphänomene, die man sich damals nicht anders erklären konnte, und sie waren eine Warnung – zum Beispiel, bei gefährlichem Wetter das Haus nicht zu verlassen. Für uns heute sind sie eine stimmungsvolle Erinnerung daran, wie bedrohlich die Natur im Winter früher wirken konnte

Geist im verschneiten Wald

Der Berggeist im Schneesturm

Neben geisterhaften Jägern kennt der Thüringer Wald auch freundlichere, aber respekteinflößende Gestalten: Berggeister oder Waldmänner, die über die Berge wachen und Reisende prüfen.

Kurzfassung der Sage

Ein junger Handwerker ist im Advent auf dem Weg von einem Dorf zum nächsten. Er hat sich verspätet, und der Schneefall ist stärker geworden als erwartet. Der Weg ist kaum noch zu erkennen, der Wind nimmt zu, und bald ist er völlig orientierungslos.

Die Dunkelheit bricht herein. In der Ferne meint er noch das Läuten einer Kirchglocke zu hören, aber der Klang wird vom Sturm verschluckt. Er kämpft sich durch den Schnee, stolpert, und schließlich muss er erschöpft an einem Felsblock rasten.

Plötzlich steht ein alter Mann vor ihm – mit grauem Bart, einem schweren Mantel und einem Stock in der Hand. Der Fremde wirkt, als sei er selbst Teil des Waldes.

„Was sucht Ihr bei solchem Wetter im Wald?“ fragt er.

Der Handwerker erzählt von seinem Weg, von seiner Not und davon, dass er zu einer Familie möchte, die auf seine Hilfe wartet. Der Alte mustert ihn lange, dann nickt er.

„Folgt mir – aber tretet nicht neben meine Spuren.“

Der junge Mann folgt den tiefen Fußstapfen im Schnee. Der Alte führt ihn sicher durch den dunklen Wald, bis plötzlich Lichter vor ihnen auftauchen: das Dorf, das er erreichen wollte.

Als sich der Handwerker umdreht, um sich zu bedanken, ist der Alte verschwunden. Im frisch gefallenen Schnee sind nur eine Reihe von Fußspuren zu sehen – seine eigenen.

Was die Geschichte erzählt

Solche Erzählungen von Berggeistern sind typisch für Gebirgsregionen: Der Wald wird als etwas Eigenständiges wahrgenommen, als Macht, die hilft oder straft – je nachdem, wie man sich verhält. Der junge Handwerker ist fleißig und hilfsbereit, deshalb bekommt er Hilfe.

Für das Vorlesen an Winterabenden eignet sich diese Sage besonders gut: Sie ist spannend, aber nicht zu düster, und sie hat eine klare Botschaft – Respekt vor der Natur und Hilfsbereitschaft gegenüber anderen.

Verschneite Wälder

Die Rauhnächte im Thüringer Wald – Zeit zwischen den Jahren

Eng verbunden mit vielen Wintergeschichten sind die Rauhnächtedie Nächte „zwischen den Jahren“, grob gesagt zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. In vielen Regionen des deutschsprachigen Raums, auch in Thüringen, galten diese Nächte als besondere, „unruhige“ Zeit.[3]

Man sagte, in den Rauhnächten sei der „Schleier“ zur Geisterwelt dünner. Die Wilde Jagd könne unterwegs sein, Seelen seien ruhelos, und gute wie böse Geister streiften umher. Darauf reagierten die Menschen mit Bräuchen:

  • Es wurde Haus und Hof ausgeräuchert, um Böses fernzuhalten.
  • Man schlug Lärm – mit Peitschen, Rasseln oder Glocken –, um Geister zu vertreiben.
  • Bestimmte Arbeiten, etwa Wäschewaschen und Aufhängen, galten als unglücklich, weil sich Geister darin „verfangen“ könnten.

Ob man an solche Vorstellungen glaubt oder nicht: Sie zeigen, wie die Menschen früher versuchten, der Unsicherheit des Winters – lange Dunkelheit, Kälte, Krankheiten – etwas entgegenzusetzen. Für heute können Sie diese Traditionen auf Ihre Weise aufnehmen: Vielleicht entzünden Sie in den Rauhnächten bewusst eine Kerze, lesen eine alte Sage vor oder machen einen stillen Spaziergang durch den verschneiten Wald

Wenn der Thüringer Wald Geschichten flüstert

Der Thüringer Wald ist im Winter weit mehr als eine schöne Kulisse für Ski und Schneespaziergänge. Er ist ein riesiger Erzählraum, in dem Generationen von Menschen ihre Ängste, Hoffnungen und Beobachtungen in Geschichten verwandelt haben.

Die Wilde Jagd, der Berggeist im Schneesturm und die geheimnisvollen Rauhnächte sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dieser reichen Überlieferung. Vielleicht nehmen Sie Ihren nächsten Winterabend zum Anlass, eine dieser Sagen vorzulesen – und sich vorzustellen, wie sie einst in einer dunklen Stube am Waldrand erzählt wurden, während draußen der Wind um die Häuser pfiff.

Fotos: (c)ulugbek – stock.adobe.com; (c)GHart – stock.adobe.com

Im nächsten Beitrag führt die Reise weiter in die Stadt: nach Erfurt, wo zwischen Lichterglanz und alten Mauern ganz eigene winterliche Sagen warten.

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