Lichterglanz und alte Glocken – Sagen rund um das winterliche Erfurt
Wenn in Erfurt der Advent beginnt, verwandelt sich die Stadt: Auf dem Domplatz leuchten Lichterketten, der Duft von gebrannten Mandeln mischt sich mit Glühwein und Bratwurst, und über allem thront der Domberg mit seinen beiden Kirchen. Zwischen den Ständen des Erfurter Weihnachtsmarkts, den engen Gassen und der Krämerbrücke ahnt man kaum, wie viele alte Geschichten hier verborgen liegen – von Geistern, von warnenden Glocken und von geheimnisvollen Gestalten im Winternebel.
In diesem Beitrag nehmen wir Sie mit in die winterliche Altstadt von Erfurt und erzählen zwei Sagen, die sich besonders gut zum Lesen und Vorlesen in der dunklen Jahreszeit eignen.
Erfurt im Winter – Stadt zwischen Marktlicht und Schatten
Erfurt ist die Landeshauptstadt Thüringens und blickt auf eine lange Geschichte als Handels- und Universitätsstadt zurück. Die Stadt liegt im Tal der Gera, umgeben von sanften Hügeln. Besonders charakteristisch ist der Domberg mit Dom und Severikirche, der sich eindrucksvoll über den Domplatz erhebt.
Am Fuß des Berges findet einer der bekanntesten Weihnachtsmärkte Deutschlands statt. Die Kulisse aus gotischem Dom, romanischer Severikirche und mittelalterlicher Altstadt macht die winterliche Stimmung hier besonders intensiv.
Ein paar Schritte weiter spannt sich die Krämerbrücke über die Gera – eine vollständig mit Häusern bebaute Brücke, die ursprünglich Teil einer wichtigen Handelsroute, der Via Regia, war.[3] Wo heute Läden, Galerien und kleine Werkstätten sind, stapelten sich früher Waren aus halb Europa.
Zwischen diesen historischen Kulissen wurden über Jahrhunderte hinweg Sagen erzählt: von Geistern auf dem Domberg, von seltsamen Ereignissen in engen Gassen und von Menschen, die im Winter mehr sahen und hörten, als ihnen lieb war.
Die Glocke, die zur Winternacht warnte – eine Legende vom Domberg

Auf dem Erfurter Dom hängt die berühmte Glocke „Gloriosa“, eine der größten freischwingenden mittelalterlichen Glocken der Welt. Um sie und den Domberg ranken sich verschiedene Geschichten, von denen sich einige auch in Sammlungen mit Erfurter Sagen finden.
Die folgende Legende ist eine typische Domberg-Erzählung, wie sie gut in eine lange Winternacht passt:
Hier ist eine Kurzfassung der Sage
Es war ein bitterkalter Dezemberabend. Über Erfurt lag Schnee, der Domplatz war wie mit einem weißen Tuch bedeckt. Die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, nur aus den Fenstern flackerte warmes Kerzenlicht.
Auf dem Domberg herrschte Stille. Die Messdiener hatten die Abendmesse beendet, die Türen waren verschlossen. Doch hoch oben im Turm hing die Gloriosa – bereit, zu hohen Feiertagen und besonderen Anlässen zu läuten.
In jener Nacht schlief ein alter Küster in seiner kleinen Kammer unterm Dach des Domstifts. Er wachte kurz nach Mitternacht auf, weil ihm war, als höre er ein fernes, tiefes Dröhnen. Zuerst dachte er, es sei der Wind, der um die Mauern strich. Doch das Geräusch wurde deutlicher – wie ein einziger, gewaltiger Glockenschlag, der nicht aufhören wollte.
Der Küster stand auf, nahm seine Laterne und ging in den Turm. Dort angekommen, stieg er die steilen Stufen zu der Glocke hinauf. Als er sie erreichte, stellte er fest: Die Gloriosa hing völlig still. Kein Seil war in Bewegung, nichts schwang, nichts vibrierte.
Trotzdem hörte er den Glockenklang – laut und doch wie aus weiter Ferne. Und im Schein seiner Laterne meinte er, für einen Augenblick eine Gestalt neben der Glocke zu sehen: dunkel, mit einem Mantel, das Gesicht nicht zu erkennen. Die Gestalt hob die Hand wie zum Gruß – und war im nächsten Moment verschwunden.
Erschrocken bekreuzigte sich der Küster und eilte zurück in seine Kammer. Er konnte die restliche Nacht kaum schlafen.
Am nächsten Morgen erfuhr die Stadt, dass in der Nacht ein schwerer Unfall an einer baufälligen Brücke außerhalb der Stadtmauern geschehen war. Ein Wagen war verunglückt, es hatte Tote gegeben. Manche sagten, die Gloriosa habe in derselben Stunde „von selbst“ geläutet, um die Stadt zu warnen oder die Seelen zu geleiten.
Von da an erzählte man sich, dass die große Domglocke in manchen Winternächten einen eigenen Willen habe – und manchmal läute, ohne dass eine Menschenhand das Seil berühre.
Was hinter der Geschichte steckt
Legenden wie diese knüpfen an die besondere Bedeutung von Glocken an: Sie rufen zum Gottesdienst, sie warnen vor Feuer oder Gefahr, sie begleiten Feste und Trauer. Gerade in der dunklen Jahreszeit, wenn Schnee Geräusche dämpft, kann ein einzelner Glockenklang besonders eindrücklich wirken.
Für das Vorlesen am Abend bietet diese Sage eine Mischung aus leiser Gänsehaut und Trost: Die Glocke wirkt hier wie ein Hüter der Stadt, der über die Menschen wacht – gerade in kalten, gefährlichen Nächten.
Der Geist auf der Krämerbrücke – Nebel über der Gera

Nicht nur auf dem Domberg, auch in den Gassen und auf der Krämerbrücke spielen sich Sagen ab. Die Brücke ist heute ein lebendiger Ort mit Cafés, Läden und vielen Besuchern – doch früher, bei Nebel und Schnee, konnte sie wohl auch sehr unheimlich wirken.
Die folgende Erzählung nutzt typische Motive aus Erfurter Stadtsagen und verlegt sie bewusst in die Winterzeit:
Eine Kurzfassung der Sage
Es war ein später Nachmittag im Advent. Der Weihnachtsmarkt auf dem Domplatz war schon geöffnet, aber eine junge Händlerin hatte ihren Stand noch nicht erreicht. Sie kam von der anderen Seite der Stadt und wollte über die Krämerbrücke gehen, um schneller ans Ziel zu kommen.
Doch an diesem Tag zog plötzlich dichter Nebel über die Gera. Die Häuser auf der Brücke lagen wie in Watte, der Fluss war kaum noch zu erkennen. Die junge Frau fröstelte, zog ihren Mantel enger und betrat die Brücke.
Normalerweise war es hier laut und belebt, mit Rufen der Händler und dem Klappern der Ladenläden. Doch jetzt war alles still. Nur ihre eigenen Schritte hallten auf den Holzbohlen.
In der Mitte der Brücke sah sie einen Mann stehen. Er trug alte, abgetragene Kleidung, wie aus einer anderen Zeit, und stützte sich schwer auf einen Stock. Sein Gesicht war blass, beinahe durchsichtig im Nebel.
„Gute Frau“, sagte er mit heiserer Stimme, „habt Ihr vielleicht ein wenig Brot für einen armen Krämer, der seine Schulden nie bezahlen konnte?“
Die Händlerin erschrak. Sie hatte schon von Geschichten über spukende Seelen gehört, die auf der Brücke umgehen sollten – Seelen von Kaufleuten, die sich in Geschäften verspekuliert oder beim Glücksspiel alles verloren hatten.
Sie griff in ihre Tasche und fand tatsächlich ein Stück Brot, das sie eigentlich später essen wollte. Zögernd reichte sie es dem Mann. Seine Hand fühlte sich seltsam kalt an.
„Gott lohn’s Euch“, flüsterte er. Dann trat er einen Schritt zurück – und verschwand buchstäblich im Nebel.
Als die junge Frau weiterging, hörte sie plötzlich wieder Stimmen, Lachen, Schritte. Der Nebel begann sich zu lichten, und sie sah Lichter von Läden und Häusern. Auf einmal war alles, wie es sein sollte.
Später schwor sie Stein und Bein, dass der Mann nicht von dieser Welt gewesen sei. Und seitdem erzählte man sich, auf der Krämerbrücke könne zur Winterszeit der Geist eines alten Kaufmanns erscheinen, der nur dann zur Ruhe kommt, wenn jemand bereit ist, mit ihm zu teilen, was er bei sich hat.
Warum solche Brückengeschichten typisch sind
Brücken sind Übergänge – nicht nur von einem Ufer zum anderen, sondern im Volksglauben oft auch zwischen dieser Welt und einer anderen. Wenn dann noch Nebel und Winterdämmerung ins Spiel kommen, ist der Rahmen für Spukgeschichten perfekt.
Gleichzeitig transportiert diese Sage eine einfache Botschaft: Teilen hilft – sei es Brot, Zeit oder Aufmerksamkeit. Gerade in der Weihnachtszeit ist das ein Motiv, das sich sehr gut an Kinder wie Erwachsene weitergeben lässt.
Zwischen Glockenklang und Brückennebel
Erfurt zeigt im Winter ein faszinierendes Bild an Geschichte: Es ist eine lebendige Hauptstadt mit einem großen Weihnachtsmarkt – und zugleich eine Stadt voller alter Mauern, Türme und Brücken, in denen sich Legenden und Sagen halten.
Die Geschichte von der Glocke, die in der Winternacht „von selbst“ läutet, und die Erzählung vom Geist auf der Krämerbrücke sind nur zwei Beispiele für Erfurter Wintergeschichten. Sie eignen sich hervorragend, um an langen Abenden vorgelesen zu werden – vielleicht mit Blick auf einen Adventskranz oder aus dem Fenster auf eine verschneite Straße.
Im nächsten Beitrag führt die Reise weiter westwärts – nach Eisenach und zur Wartburg, wo Burgen im Schnee, Heilige und Ritter ihre ganz eigenen Winterlegenden geschrieben haben.
Foto: (c)60px – Fotolia
Werbung















